Jeder kann Yoga üben

nur jeder ein bisschen anders

Wenn wir während einer Yogastunde den Blick nach links und rechts schweifen lassen, sehen wir überwiegend folgendes Bild: 25 bis 35 jährige schlanke Frauen. Die eine ist vielleicht ein bisschen flexibler, die andere kann dafür besser Armbalancen. Aber im Grunde fließen sie alle recht elegant durch ihre Vinyasa und stehen anmutig im Krieger. 

Männer oder ältere Menschen sind in unserer (westlichen) Yogawelt allerdings eher seltene Exemplare. Kein Wunder, immerhin wird Yoga überwiegend für den Stereotyp vermarktet: In meinem Bücherregal stehen die letzten 14 Ausgaben des Yoga Journals. In der aktuellen Ausgabe ist das erst Mal ein Mann auf dem Titelbild zu sehen. Dabei soll Yoga ein Angebot für alle sein. So steht es in den alten Yoga-Schriften: 

“Ob jung oder erwachsen, ob sehr alt oder krank oder schwach, durch Übung erlangt derjenige Vollendung, welcher in allen Yogaübungen unermüdlich ist.“ (Hatha Yoga Pradipika, I.64)

Keine Ausreden

“Saying you are too inflexible to do Yoga is like saying you are too dirty to shower.” (Eoin Finn)

So viel zur Theorie. Wieso sieht die Praxis so viel anders aus? Schlägt man Männern vor, in eine Yogaklasse zu kommen, wird oft ausgewichen: “Yoga ist eher was für Frauen — ich bin viel zu ungelenkig dafür.” Bei Älteren sind es meistens fehlende Kraft und Ausdauer, die sie von einer Yogastunde fern halten. 

Dabei taugt “zu ungelenkig” oder “zu wenig Kraft” so wenig als Argument gegen Yoga, wie “zu dreckig” gegen eine Dusche. Es heißt ja nicht umsonst “Yoga üben” und “Yogapraxis”. Es geht nicht darum, alle “Asanas” auf Anhieb perfekt zu können — dann wäre das Üben genau genommen sinnlos. 

Das Ziel von Yoga

“Für die Meditation ist es wichtig, dass die Wirbelsäule gerade ist, damit die Nervenimpulse frei zum Gehirn gelangen können.” (Swami Muktibodhananda, Hatha Yoga Pradipika, I.19)

Perfektion ist allerdings nicht nur keine Voraussetzung, sondern nicht einmal Ziel der Übung. Historisch gesehen, gibt es die körperlichen Übungen im Yoga nur aus einem Grund: damit wir länger sitzen und meditieren können. 

Allerdings ist die Asana-Praxis mittlerweile sicherlich mehr als bloße Vorbereitung zur Meditation. Sie dient auch dem Atem, denn Atmung ist nichts anderes anderes als eine Formveränderung der Hohlräume unseres Körpers: Mit jeder Wirbelsäulenbeugung atmen wir aus, mit der Wirbelsäulenstreckung atmen wir ein. Damit ist die Formveränderung der Wirbelsäule gleichbedeutend mit der Formveränderung der Atemorgane. Man kann also sagen: Bewegen heißt Atmen. 

Vor allem beim Vinyasa Yoga nutzen wir das Zusammenspiel von Atem und Bewegung um in einen “Flow-Zustand” zu kommen, was letztendlich nichts anderes als bewegte Meditation ist. 

Erfahrung statt Perfektion

“Ein Asana ist ein Gefäß für Erfahrungen. Es ist eine Form, der wir einen Augenblick lang innewohnen, ein Ort, an dem wir mitten im Bewegungsfluss innehalten dürfen.” (Leslie Kaminoff, Yoga-Anatomie)

Natürlich eignen sich Asanas auch wunderbar als Dehn- oder Kräftigungsübungen für Muskeln. Das Ausführen einer Asana macht sie aber ebenso wenig zu Yoga wie Perfektion. Es geht vielmehr um die Erfahrung, das bewusste Hineinspüren in unseren Körper, das Wahrnehmen von Spannungen, von Enge und Weite und das bewusste Empfinden von Anstrengung und Entspannung. 

Es geht bei der Asana-Praxis daher nicht darum, alles “richtig” zu machen oder wie weit wir kommen. Es ist egal ob beim herabschauenden Hund die Fersen oder in der Vorbeuge die Hände den Boden berühren. Auch wenn deine Fingerspitzen einen halben Meter über dem Boden schweben: wenn du deine natürliche Grenze bewusst wahrnimmst, sie akzeptierst und trotzdem gleichmütig weiter atmest, dann ist es Yoga. Klebst du allerdings mit halbem Auge beim Mattennachbar, der viel weiter kommt, und versuchst mit aller Kraft dich weiter in die Position zu zwingen, dann hat das nichts mit Yoga zu tun. 

Eine Frage des Körperbaus

“Durch das Praktizieren lernen wir, zwischen Dingen zu unterscheiden, die wir ändern können und solchen, die wir nicht ändern können.” (Leslie Kaminoff, Yoga-Anatomie)

Natürlich dürfen wir uns trotzdem darüber freuen, wenn wir Fortschritte machen. Wir sollten es aber nicht zum Ziel der Übung machen, eine Asana in einer gewissen Form ausführen zu können. Das ist nicht nur kein Yoga, sondern vor allem schnell frustrierend. Denn manche Positionen sind für unseren Körper einfach unmöglich und werden es auch immer bleiben — egal wie viel wir üben. 

Jeder Mensch ist einzigartig. Das haben wir alle schon zig mal gehört und auf unzähligen Postkarten gelesen. Meistens meinen wir damit den Charakter, das Wesen des Menschen. Doch auch in unserer Anatomie unterscheiden wir uns alle voneinander. Natürlich haben wir irgendwie alle den gleichen Bauplan — andernfalls wäre jede Operation ein Himmelfahrtskommando. Aber jeder Mensch hat andere Proportionen, andere Winkel, Längen und Dicken von Knochen und Muskeln. Und vielleicht hindert dich einfach dein Knochenbau an einer tiefen Vorbeuge. 

Deine Variante

“Nicht der Mensch muss sich dem Yoga anpassen, sondern der Yoga dem einzelnen Menschen.” (T. K. V. Desikachar)

Das heißt allerdings keinesfalls, dass du Abstand von Yoga nehmen solltest. Es heißt lediglich, dass du jede Asana so ausführen sollst, wie sie für deinen Körper funktioniert. Und wenn das bedeutet, dass dein herabschauender Hund eher aussieht wie ein herabschauender Käfer, dann ist das okay. Und wenn du bei dem Gedanken an Spagat und Kopfstand nur lachend abwinkst, dann ist das trotzdem Yoga. Selbst wenn du aufgrund von Krankheit oder Alter nur im Sitzen übst, kannst du Yoga praktizieren. 

Das lässt sich natürlich leicht sagen als sportliche Frau mit Mitte dreißig. Doch für jeden, der nicht in dieses typische Yoga-Bild passt, ist die erste Yogastunde eine Überwindung, die am Ende vielleicht sogar noch mit Frustration endet, weil man “es nicht hinbekommen hat”. 

Es reicht daher nicht, dass wir uns auf die alten Schriften berufen und sagen “Jeder kann Yoga machen”. Wir müssen dieses Angebot auch deutlich zeigen und Yoga so anbieten, dass auch jeder mitmachen kann. 

“Jede Person kann beginnen, und der Punkt an dem wir dann anfangen, wird so verschieden und persönlich sein, wie wir es jeweils nunmal sind.“ (T. K. V. Desikachar)

by Kate – Januar 2021

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